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Verschwörungserzählungen und Vertrauensverlust

Zu Umfragen unter Geflüchteten und Zugewanderten

Rüdiger Braun
Das englische Wort für Vertrauen "Trust" in den Sand geschrieben

Umfrageergebnisse sind fraglos immer mit Vorsicht zu genießen und erlauben zudem je nach Leseperspektive unterschiedliche Interpretationen. Doch lassen sie möglicherweise einen Trend erkennen, der insbesondere dann, wenn es sich um das Feld des Weltanschaulichen und Religiösen handelt, eine durchaus gesamtgesellschaftliche Relevanz entfalten kann.

Religiosität von Geflüchteten

Eine aktuelle Kurzanalyse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur „Religionszugehörigkeit und religiösen Alltagspraxis bei Geflüchteten“1 widmet sich dem Thema „Religion“ und resümiert bereits einleitend, dass der Religion als „Unterstützung bei der Bewältigung traumatischer oder schwieriger Ereignisse“ (2) eine zentrale Rolle zukomme. Die Analyse ist das Konzentrat einer in den Jahren 2017, 2019 und 2021 im Längsschnitt vorgenommenen Befragung von Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2019 nach Deutschland gekommen sind.2 Dabei ließ sich eine hohe Konstanz in der Religiosität, bei Muslimen sogar eine Zunahme feststellen. Letztere bilden mit knapp 70 Prozent die Mehrheit unter den Geflüchteten, gefolgt von 16 Prozent Christen und jeweils rund 7 Prozent Anders- oder Nichtreligiösen. Was den Großteil der Geflüchteten (89,3%) miteinander verbindet, ist die hohe Bedeutung, die sie ihrem Glauben zuschreiben: Sie alle „behalten ihren Glauben über die Zeit hinweg bei“ (1) oder haben, wie dies insbesondere unter Muslimen der Fall ist, ihre Glaubensbindung in den letzten Jahren nochmals intensiviert. Ebenfalls knapp 90 Prozent der Geflüchteten beschreiben sich als gläubig oder „stark gläubig“ und bekunden eine entsprechende religiöse (Gebets-)Praxis: Knapp 40 Prozent der Muslime (38,6%) aus muslimisch geprägten Herkunftsländern beten täglich (5).3

Angleichungstendenzen an die Aufnahmegesellschaft

Trotz der hohen Konstanz von Religionszugehörigkeiten glaubt die BAMF-Kurzanalyse unter den Geflüchteten eine Differenz feststellen zu können, was die Tendenz zur Angleichung von Religiosität an die eher säkular geprägte Aufnahmegesellschaft betrifft. Wiederholt wurde die Häufigkeit von Besuchen religionsbezogener Veranstaltungen und Zusammenkünfte erfragt, um die Konstanz und Transformation religiöser Alltagspraxis zu messen. Das Ergebnis (10): Bei den christlichen Geflüchteten überwiegt der Anteil der Personen mit verringerter Besuchshäufigkeit (28,2%), bei muslimischen Geflüchteten hingegen der Anteil mit gesteigerter Besuchshäufigkeit (28,8%). Erhärtet wird die besagte Differenz durch den Bertelsmann-Religionsmonitor, dem zufolge knapp ein Viertel der muslimischen Religionsangehörigen (24%) während der Corona-Pandemie ihre Gebetspraxis intensiviert hat – ein Muster, das sich bei den meisten anderen Religionsgruppen, insbesondere bei den christlichen, nicht erkennen lässt. Die Kurzanalyse erläutert diesen Befund mit dem Hinweis, dass Religion für muslimische Religionsangehörige offenbar einen „Coping-Mechanismus“, eine Bewältigungsstrategie darstelle, die „insbesondere in Krisenzeiten Halt“ zu geben und im „Umgang mit den pandemiebedingten Unsicherheiten und Einschränkungen“ zu helfen vermag (ebd.). Eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Frage, warum diese Funktion von Religion bei Muslimen stärker greift als bei Christen, erfolgt allerdings nicht. Stattdessen wird die Annahme formuliert, dass der weltanschauliche Kontext der Aufnahmegesellschaft nicht ohne Auswirkungen auf die Religiosität Zugewanderter bleibe und sich somit „langfristig […] Angleichungstendenzen im Sinne einer abnehmenden Religiosität und religiösen Praxis zeigen“ könnten (13). Zugleich wird festgestellt, dass die bisherige Forschung in Bezug auf muslimische Zugewanderte im Vergleich zu anderen Gruppen „eine vergleichsweise hohe Stabilität der Religiosität“ (ebd.) zeige.

Vertrauensverlust unter Muslimen

Der genannte Befund ist insofern von recht weitreichender Bedeutung, als dem Phänomen der Religion in einem religiös zunehmend pluralisierten Einwanderungsland wie Deutschland eine proportional steigende Relevanz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zukommt. Die zentrale Ressource für die Stabilität und Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems bildet neben dem Vertrauen in politische Institutionen und Amtsträger auch das Vertrauen, das Zugewanderte und Herkunftsdeutsche einander trotz unterschiedlicher weltanschaulich-religiöser Zugehörigkeit und Praxisintensität entgegenbringen. Dass es um dieses (in der Studie nur mittelbar angesprochene) Vertrauen gegenwärtig eher schlecht bestellt ist, hat jüngst eine vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) herausgegebene Studie hervorgehoben. Auf der Datengrundlage eines repräsentativen Online-Survey widmet sich die Untersuchung unter dem Titel „Demokratie unter Druck“ der Frage, wie sich das Vertrauen der Bevölkerung in Politik und politische Amtsträger in den letzten Jahren verändert hat und wie sich dieses Vertrauen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheidet.4 Dabei lässt sich beim Vergleich der Erhebungswellen (2022 bis 2025) eine eindeutige Entwicklung beobachten: Lag das Vertrauen in Politiker und in die Bundesregierung schon 2022 auf einem eher niedrigen Niveau, nahm es in den letzten Jahren kontinuierlich ab. Dabei zeigen sich jenseits des generellen Vertrauensverlusts in politische Institutionen Differenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Blieb „das Vertrauen bei nicht rassistisch markierten Menschen“ laut der Studie auf niedrigem Niveau „weitgehend stabil“, sei es in anderen Gruppen – insbesondere bei muslimischen Menschen – deutlich gesunken: Mit 28 Prozent sprechen nur noch etwas mehr als ein Viertel der Muslime der Bundesregierung ein „gewisses Maß an Vertrauen“ (4) aus. Das ist „der niedrigste Wert unter allen rassistisch markierten Gruppen“ (2). Der Anteil derjenigen, die den Politikern „überhaupt nicht“ vertrauen, stieg unter den Muslimen von 23 auf 34 Prozent (5).

Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit des demokratischen Gemeinwesens

Zu den Ursachen des unter Muslimen beobachteten Vertrauensverlusts zählt die Studie in einem ersten Erklärungsversuch „globale Krisen wie die Corona-Pandemie, de[n] Krieg in der Ukraine und de[n] Nahostkonflikt, das Erstarken rechter und rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen sowie migrationsfeindliche Diskurse“. Insbesondere dem letztgenannten Punkt, den „migrationsfeindlichen und rechten Narrativen“, schreibt die Studie eine zentrale Rolle zu: Die Verschiebung des politischen Diskurses nach rechts verstärke „rassistische, antimuslimische und geflüchtetenfeindliche Debatten, die rassistisch markierte Personen und Menschen mit Migrationshintergrund aus der Mehrheitsgesellschaft ausgrenzen“ (8).5 Versteht man das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie als „wesentliche Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Unterstützung demokratischer Prinzipien“, hat der beobachtete Vertrauensverlust erhebliche „Auswirkungen auf die politische Steuerungsfähigkeit“ des demokratischen Gemeinwesens (8),6 so die nachvollziehbare Argumentation der Studie.

Verschwörungsanfälligkeit und Religiosität in der Einwanderungsgesellschaft

Die Brisanz des insbesondere unter Zugewanderten und Deutschen mit Migrationshintergrund7 festgestellten Vertrauensverlusts lässt sich zusätzlich durch einen Umstand unterstreichen, auf den der aktuelle Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung „Verschwörungsglaube als Gefahr für Demokratie und Zusammenhalt“8 aufmerksam macht. Der Religionsmonitor spricht von einem Anteil von rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, der als „verschwörungsanfällig“ bezeichnet werden muss, wobei eine Aufschlüsselung nach Religionszugehörigkeit auch hier eine Überrepräsentanz von Muslimen erkennen lässt. Deutlicher noch ist diese Überrepräsentanz im Spektrum der sogenannten „Verschwörungsfundamentalisten“: Während sie in der Gesamtbevölkerung etwa 2 Prozent ausmachen, sind es unter den Muslimen (die in der Gesamtbevölkerung mit 8 Prozent vertreten sind) 23 Prozent.9 Der „stärkere Zusammenhang zwischen Religiosität und Verschwörungsanfälligkeit“ unter Muslimen lässt sich dem Religionsmonitor zufolge mit einer kulturellen Defensivhaltung erklären: „Vor allem Menschen, die sich in der Defensive fühlen, etwa durch eine zunehmende Säkularisierung und Liberalisierung, sind stärker ansprechbar für Verschwörungsnarrative“ (10). Ein weiterer Faktor ist die Konfrontation „mit massiven antimuslimischen Vorbehalten“ sowie „mit Anfeindungen und Diskriminierung“ (18).10 Alternative (Verschwörungs-)Erzählungen verschaffen den Betroffenen Entlastung, „weil sie die bestehende gesellschaftliche Ordnung infrage stellen und das Gefühl der Machtlosigkeit mildern“ (ebd.).11

Religion als Brücke zum Verschwörungsglauben

Damit rückt der Religionsmonitor implizit den zentralen Zusammenhang von Religion und Resilienz in den Blick. Er spricht zunächst Verschwörungserzählungen und religiösem Glauben in ihrer jeweiligen „inhaltlichen Struktur“ eine „große Ähnlichkeit“ zu, insofern „beide versuchen, vermeintlich Unerklärliches zu erklären, indem sie auf übernatürliche oder überempirische Mächte verweisen“.12 Doch stehen die Umfrageergebnisse einem Verständnis von Verschwörungserzählungen als einer „Art Ersatzreligion“ eher entgegen, wie die Mitautorin Yasemin El-Menouar betont: „Religionen bilden eher eine Brücke zum Verschwörungsglauben“, insbesondere dann, wenn die Religion zugleich eine klare Moralordnung und den „Glauben an einen strafenden Gott“13 beinhalte.

Mit diesen Verweisen auf das Übernatürliche, den strafenden Gott und eine (wie auch immer geartete) normative Ordnung sind eher beiläufig zentrale (religiöse) Topoi benannt, die dazu veranlassen, die konstatierte Verbindung von Religiosität und Verschwörungsglauben nochmals differenzierter in den Blick zu nehmen. Weltanschauungen und Religionen sind nicht „gleich“, und noch weniger sind es die unzähligen Lesarten der mit ihnen verbundenen Sprachspiele, die sich nach individueller Prägung, sozialem Kontext und politischem Ziel unterschiedlich interpretieren und ins Leben übersetzen lassen. Diese Vielfalt und Vielgestaltigkeit im Zugang zum Religionsphänomen im Allgemeinen sowie zur eigenen religiösen Zugehörigkeit im Besonderen veranlasst nicht nur dazu, das Verhältnis von Religion und Resilienz mit Blick auf die damit verbundenen Dynamiken und Mechanismen auszudifferenzieren. Sie kann auch dazu veranlassen, Religion und Religiosität – verstanden als sprachliche und rituelle Ausdrucksformen eines existenziellen Verhältnisses des Menschen zu einem ihm gegenüber Größeren – als etwas durch und durch Menschliches zu begreifen und damit als etwas, das – wie alles Menschliche – Verkehrung und Perversion miteinschließt. Verschwörungserzählungen sind davon nur ein kleiner Teil. Insofern sie die gesamtgesellschaftlich so zentrale Vertrauensbildung verhindern, sind sie jedoch bedeutsam genug, um eingehend und ideologiekritisch betrachtet zu werden.


Rüdiger Braun, 17.06.2025

 

Anmerkungen

  1. Amrei Maddox, „Religionszugehörigkeit und religiöse Alltagspraxis bei Geflüchteten“, BAMF-Kurzanalyse 01/2025, https://tinyurl.com/2h9wtwrz (Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Dokument) (letzter Abruf aller im Beitrag genannten Internetquellen am 25.3.2025).
  2. Die Befragung war ein Kooperationsprojekt zwischen dem „Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung“ (IAB), einer Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, dem „Survey of Refugees“ (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und dem Forschungszentrum des BAMF in Nürnberg.
  3. Die Kurzanalyse verweist auf Katrin Pfündel, Anja Stichs und Kerstin Tanis, Muslimisches Leben in Deutschland 2020. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Forschungsbericht 38 (Nürnberg: BAMF, 2021).
  4. Massa Gahein-Sama u.a., Demokratie unter Druck. Wie sich das Vertrauen in die Politik verändert, DeZIM Data.insights #17/25 (Berlin: DeZIM, 2025), https://tinyurl.com/bdzjy7tf (Seitenangaben beziehen sich auf diese Studie).
  5. Mit Verweis auf Ruth Wodak, The Politics of Fear. The Shameless Normalization of Far-Right Discourse, 2. Aufl. (London: SAGE, 2021).
  6. Mit Verweis auf Vanessa Wintermantel, „Das imaginierte Fremde. Rassismus als Legitimationsproblem für die Demokratie“, WZB-Mitteilungen. Quartalsheft für Sozialforschung 176 (2020), 27–29.
  7. In der Altersgruppe der 10- bis 20-Jährigen lag der entsprechende Bevölkerungsanteil 2023 bei etwa 40 Prozent: vgl. Statistisches Bundesamt, „Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund – Ergebnisse 2023“, 2.4.2024, https://tinyurl.com/3ebkxmm9.
  8. Ruben Below, Yasemin El-Menouar und Ines Michalowski, „Verschwörungsglaube als Gefahr für Demokratie und Zusammenhalt. Erklärungsansätze und Prävention“, Religionsmonitor, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh, Februar 2025, https://tinyurl.com/muv5dsev (Seitenangaben beziehen sich nachfolgend auf dieses Dokument).
  9. Vgl. Yasemin El-Menouar, „‚Glauben sie das wirklich?‘ Zum Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung 2025. Philip Barnstorf im Gespräch mit Yasemin El-Menouar“, Die Zeit 6/2025 (6.2.2025), 54.
  10. Mit Verweis auf den „Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Muslimfeindlichkeit“ (UEM), hg. vom Bundesministerium des Innern und für Heimat, Berlin, 2023, 33f.
  11. Mit Verweis auf Joseph E. Uscinski, „The Study of Conspiracy Theories“, Argumenta 3,2 (2018), 233–245.
  12. El-Menouar, „‚Glauben sie das wirklich?‘“.
  13. El-Menouar, „‚Glauben sie das wirklich?‘“: „Menschen, die an einen strafenden Gott glauben, [sind] anfälliger […] für Verschwörungstheorien als diejenigen, die ihren Gott stärker mit Geborgenheit in Verbindung bringen.“

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Ansprechpartner

Foto Dr. Rüdiger BraunPD Dr. theol. Rüdiger Braun
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